Sich überwinden

Liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter,

es kommt immer wieder mal vor, dass in meinen Hirnwindungen ein Gedanke, ein Wort oder eine Formulierung hängen- und steckenbleibt.

Vor ein paar Tagen war es wieder soweit. Leider – was ziemlich lästig war – nachts um 2.00 Uhr.

Lästig daran ist, dass ich nicht mehr aufhören kann, den Gedanken zu umkreisen und zu erforschen – bis er endlich „weiterrutscht“ und in die Hirnkammer verschwindet, wo er hingehört.

Vielleicht kommt Ihnen der Gedanke, der da bei mir hängenblieb, recht banal und unnütz vor. Das kann ich Ihnen nicht übelnehmen, denn es ging mir zunächst genauso.

Hängen geblieben war der Allerweltsausdruck: „Sich überwinden“

Halten Sie mich ruhig für verrückt, aber es ist wirklich so: Ich komme dann nicht mehr los und frage mich:

Wie kommt es zu so einem merkwürdigen Ausdruck: „Sich überwinden“?

Was windet sich da?

Oder kommt das „Winden“ von „Wenden“? Was wendet sich beim „Sich überwinden“?

Wer ist der Gegner, wenn ich mich überwinde?

Oder gar: Wer überwindet in mir mich?

Sind da zwei, die gegeneinander kämpfen?

Ist es nicht besser, bei sich zu bleiben, als sich zu überwinden?

Leicht abgedreht, diese Gedankenspiele – da gebe ich Ihnen Recht.

Aber ich komme ja nur davon los, wenn ich ein paar einigermaßen befriedigende Antworten gefunden habe.

Also: nachts um 2.15 Uhr ein Wörterbuch aufgeschlagen: Definition für „Sich überwinden“:

„Etwas, was einem widerstrebt oder schwerfällt, schließlich doch tun.“

Das gefiel mir schon mal gut: Das beschreibt einen inneren Vorgang, bei dem sich etwas verändert.

Offenbar können Menschen einen Widerwillen, einen Ekel, eine vorgefasste Meinung oder ein Vorurteil durch Nachdenken, Umdenken, Dazulernen, Abwägen überwinden.

Das „Sich überwinden“ ist dabei ein ziemlich bewundernswerter Akt, denn:

Was da überwunden wird ist oft etwas, das wir für unsere Person als essenziell, unabänderbar und zu-uns-gehörig betrachtet haben.

Vor Jahren habe ich ein Buch über die Künstlerin Paula Jordan geschrieben. Bei den Nachforschungen habe ich folgenden expressiven Holzschnitt aus dem Jahr 1936 (wieder)entdeckt, der vielleicht sehr gut den Augenblick kurz vor dem „Sich Überwinden“ darstellt: Eine Frau will zwei Zerstrittene zum Umdenken bewegen. Das „Winden“ und „Wenden“ drückt sich in den angespannten Körpern aus. Als Betrachter wünscht man, dass im „Sich-Überwinden“ die Körper sich entspannen und man einander die Hand reicht. Die linke Person scheint im „Sich Wenden“ und „Sich Überwinden“ schon einen Millimeter weiter zu sein als die rechte.

„Etwas, was einem widerstrebt oder schwerfällt, schließlich doch tun.“

Leider halten viele das „Sich Überwinden“ für eine Schwäche, für ein Nachgeben, für ein „Sich-selbst-Aufgeben“.

Und es stimmt: Wenn das „Sich Überwinden“ nur durch äußeren Druck oder Überredung und nicht durch eine eigene neue Überzeugung zustande kommt, ist nicht viel gewonnen.

Nochmal Leider: Viele halten Sturheit und das Festhalten an „meiner Meinung“ für eine Tugend.

Man möchte Recht behalten, obwohl längst andere Gedanken an „meiner Meinung“ nagen.

Man wird sich so verrennen (ich fürchte, der Ausdruck „sich verrennen“ wird sich als nächster bei mir festhaken).

Menschen, die als „meinungsstark“ gelten, sind oft nur unfähig, sich zu überwinden.

Es hat in den meisten Fällen etwas Lösendes, wenn man „sich überwinden“ kann.

Es ist, wie wenn man sich in einem Labyrinth den Kopf schon 20-mal an die gleiche Wand gestoßen hat und endlich beschließt, umzudrehen:

Es tun sich dann neue, vielversprechendere Wege auf.

Ich finde, wir sollten viel öfter von dieser Fähigkeit „sich zu überwinden“ Gebrauch machen.

Als Diakoniker können wir gar nicht anders, als immer wieder in Situationen hineinzugehen, die unsere Selbst-Überwindung fordern.

So langsam – ich merke es – lockert sich mein Gehirnstau und der Gedanke kommt ins Fließen und sucht schon die Hirnkammern, wo etwas ist, bei dem ich mich dringend überwinden sollte.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie schon viel weiter sind und mit Leichtigkeit und ohne Selbstaufgabe im Kopf die Richtung ändern können, wenn es angebracht ist.

Angeblich soll ja der Kopf deshalb rund sein, damit die Gedanken auch mal die Richtung ändern können.

 

P.S.

Was fällt Ihnen selbst ein, bei der Definition von „Sich Überwinden“?

„Etwas, was einem widerstrebt oder schwerfällt, schließlich doch tun.“ ???

P.P.S.

Es gibt sogar einen biblischen Bezug zum Thema „Sich Überwinden“: Wer glaubt, dass Jesus als eine „vollkommene“, „unveränderliche“ Persönlichkeit geschildert wird, der lese einmal im Matthäusevangelium Kapitel 15, Verse 21-28. Jesus begegnet einer „Ausländerin“, die für fromme Juden als unrein galt. Jesus ignoriert zunächst die Frau mit ihrem Anliegen. Erst als sie anhaltend weiter bittet, kommt es zu einem Gespräch. Die Antwort der Frau bewegt Jesus. Er ändert seine Haltung und überwindet sich.

Eine ähnliche Geschichte wird von Petrus erzählt, der durch einen Traum seine Haltung gegenüber „Unreinen“ ändert: Apostelgeschichte Kapitel 10, Verse 9-16.

 

Es grüßt Sie herzlich und wünscht Ihnen einen nachdenklichen Tag

Ihr Pfarrer und „Seel“sorger

Jochen Walker